Datscha bei Moskau gibt Pasternak Halt

Von Thomas Körbe

Eine Hollywood-Verfilmung von Pasternaks Roman „Doktor Schiwago“ wird mit fünf Oscars gefeiert. Doch in der Sowjetunion wird der Autor für sein brisantes Buch verstoßen. Seine Datscha bei Moskau wird für Pasternak zugleich Quell der Kreativität und letztes Refugium.

Der Geburtsort von „Doktor Schiwago“ liegt malerisch verträumt in einem Wäldchen vor den Toren Moskaus. Hoch überragen Linden die Datscha – das Landhaus – des russischen Schriftstellers Boris Pasternak in der früheren Künstlersiedlung Peredelkino. Hier verfasst der Literaturnobelpreisträger (1890-1960) seinen einzigen Roman „Doktor Schiwago“, eine tragische Liebesgeschichte und eine für damalige sowjetische Verhältnisse revolutionäre Gesellschaftskritik der Oktoberrevolution von 1917 und ihrer Folgen. Mit dem Roman erreicht Pasternak den Zenit seines Schaffens und besiegelt seinen tiefen Fall in die politisch angeordnete Bedeutungslosigkeit.

„Das Schreiben dieses Romans war eines der wichtigsten Ereignisse seines Lebens“, sagt Irina Jerissanowa. Sie ist die Direktorin des Pasternak-Museums, das die Datscha in Peredelkino seit den 1990er Jahren beherbergt. „Hier hatte er Ruhe, ungestört daran zu arbeiten.“

Die sowjetische Zensur verbot das Buch, doch im Westen wurde es zu einem grandiosen Erfolg, den Hollywood 1965 in Starbesetzung mit Omar Sharif verfilmte. Der Streifen räumte fünf Oscars ab. Heimlich schaffte ein Italiener das Manuskript über die Grenze und ließ es 1957 übersetzen. Heute ist bekannt, dass der US-Geheimdienst CIA den weltweiten Erfolg von „Doktor Schiwago“ für Propagandazwecke im Kalten Krieg gezielt förderte. Für Pasternak ein Bärendienst.

Hetze bereitete der Familie große Schwierigkeiten und Kummer.

Denn als ihm 1958 der Nobelpreis zugesprochen wurde, währte seine Freude nicht lange. Die Würdigung durch den „Klassenfeind“ löste eine Hetzkampagne der Behörden und des Künstlerestablishments aus. Als Feind kommunistischer Ideale wurde Pasternak verfemt.

Aus Liebe zur Heimat verzichtete er schließlich auf den Preis und bat förmlich darum, im Land bleiben zu dürfen.

Die Hetze habe der Familie großen Kummer bereitet, erzählte 2010 Pasternaks Sohn Jewgeni. „Wir dachten, die Führung müsse so eine hohe Auszeichnung als Ehre für das Land aufnehmen“, sagte er der Agentur Ria Nowosti. Sein Vater habe das so gesehen, „doch zweifelte er und glaubte, dass ihm doch Unannehmlichkeiten drohen. Leider irrte er nicht.“

Jerissanowa empfängt in einem ovalen Wintergarten. Idyllisch ist der Blick aus den kleinen Fenstern auf das Grün ums Haus. Ein Gärtner in Gummistiefeln pflegt an diesem verhangenen Sommertag die Parkanlage. Das leicht verschlissene Polster des Diwans federt gemütlich. Jerissanowa nippt an einer Tasse Tee und erzählt.

„Das erste Mal, als ich ‚Doktor Schiwago‘ gelesen habe, hatte ich wenig Erfolg. Aber dann habe ich es mir nach und nach erschlossen. Irgendwann habe ich verstanden, dass ich eine Idiotin bin. Denn es steht alles in diesem Buch“, sagt die studierte Philologin.

Häufig kämen Besucher ins Museum, die nicht verstünden, warum Pasternaks Buch in der UdSSR verboten war. „Diese Leute erinnern sich oft nicht an die Zeit damals. Sie verstehen die Dissonanz des Buches mit den Bedingungen der Sowjetzeit nicht“, meint die Direktorin.

Pasternaks Erzählung habe mit der offiziellen Literatur gebrochen, die die Oktoberrevolution romantisierte. „Wenn wir ‚Schiwago‘ mit Filmen und Texten aus dieser Zeit vergleichen, verstehen wir, dass das zwei völlig verschiedene Welten waren.“

Roman wurde anfangs kaum verstanden.

Jerissanowa glaubt nicht, dass damals viele den Roman verstanden hätten, wäre er auf Russisch erschienen. „Die Menschen waren noch nicht bereit dafür. Die Gedanken darin waren ehrlicher, offener, klarer als alles, was bis dahin geschrieben wurde. In dem Buch betrachtete Pasternak die Geschichte von einer Seite, wie es bis dahin noch kein sowjetischer Autor gewagt hatte.“

Die Presse feiert Pasternak heute bisweilen als „literarischen Scharfschützen“. In gebildeten Kreisen zählten seine Gedichte zu den Klassikern, auch wenn die breite Masse sie vielleicht nicht mehr so gut kenne, schätzt Jerissanowa. Mehr als 30 verschiedene Führungen bietet ihr Museum an. Jede Woche gibt es Gesprächsrunden oder Ausstellungen zu Pasternak. „Verbotene Themen haben wir nicht“, sagt sie, auch zur Rolle der CIA gebe es eine Exkursion.

Die Künstlersiedlung Peredelkino entstand 1934 als Refugium für Schriftsteller. Die heutigen Plattenbauten, die sich nicht allzu fern hinter den Bäumen erheben, gab es damals noch nicht. Zu kleinem Preis konnten Künstler zu Pasternaks Zeiten die Datschen mieten und fernab des Hauptstadttrubels im Grünen Inspiration suchen, wie es im Museum heißt. Pasternak bekam 1936 sein erstes Haus zugeteilt, 1939 zog er in ein größeres um und blieb dort den Rest seines Lebens.

Pasternaks schlichtes Büro wirkt, als hätte er es nie verlassen. Jacke und Mütze hängen griffbereit am Schrank. Auf den Schreibtisch aus massivem Holz fällt von rechts das Tageslicht. So habe er gerne gearbeitet, erzählt Führerin Anna. In einem Regal zeigt sie Bücher. Darunter sind Shakespeare-Werke, die Pasternak – er sprach fließend Englisch, Deutsch und Französisch – während einer Schaffenskrise in den 1930er Jahren übersetzte. Auch ein paar Ausgaben von „Schiwago“ in verschiedenen Sprachen, die ihm geschickt wurden, stehen im Regal. Die meisten seien aber erst nach seinem Tod dazugekommen, sagt Anna.

Posthum geehrt

Eine Tasse steht an Pasternaks Sterbebett im Erdgeschoss. Hier erliegt er 1960 als verkannter Dichter schwerer Krankheit. Es soll bis 1988 unter dem Reformer Michail Gorbatschow dauern, dass sein Buch auch in der Sowjetunion erscheint. Posthum wird Pasternak aufs Podest gehoben, stellvertretend nimmt sein Sohn Jewgeni 1989 den Nobelpreis entgegen.

Seither ruht Pasternak nur wenige hundert Meter von seinem Haus entfernt auf einem Friedhof, unter Plastikblumen. Sein einsames Ende ähnelt dem seines Romanhelden Juri Schiwago, wie Jerissanowa den dichtenden Arzt beschreibt: „Er sucht keine Gegner. Seine einzigen Gegner sind Tod und Krankheit. Darin liegt die Kühnheit der Erzählung.“ (dpa)