Wahrheit und Lügenpresse - Zur Kritik an den Medien

Anhänger der Alternative für Deutschland (AfD) Ende 2015 in Rostock (Mecklenburg-Vorpommern) bei einer Demo gegen die deutsche Asylpolitik. | Bernd Wüstneck/dpa


Und auch die Abwehr von Vernunft und Faktenorientierung ist nicht neu, sondern begleitet die europäische Geschichte seit Beginn der Aufklärung, wie Irene Neverla betont, neben Volker Lilienthal Mitherausgeberin des Sammelbandes „Lügenpresse“. Es ist die umfassendste Beschäftigung mit dem Thema, die es zurzeit zu lesen gibt und bietet eine Reihe interessanter Einsichten über die allseits diskutierten hinaus.

Das Buch basiert auf einer Ringvorlesung, die die beiden Medienwissenschaftler an der Universität Hamburg organisiert haben. Ihr Kollege Michael Brüggemann etwa zeigt, wie in den USA Lobbyisten die Ansichten von Klimaleugnern in die Medien gebracht haben – und wie in dieser Debatte die Unterscheidbarkeit zwischen Wahrheit und Lüge zunehmend verloren gegangen ist. Mit weitreichenden Folgen über die Klimawandel-Diskussion hinaus: Wenn beide Seiten sich als Lügner denunzieren, geht am Schluss die Glaubwürdigkeit verloren.

Der Theologe Norbert Schneider beschäftigt sich mit der Frage, wie gut sich Fakten gegen Gefühle behaupten können und der, ob die Wahrheit „eine Bringschuld der Presse“ sei. Nein, meint er – Medien müssten Meinungsvielfalt ermöglichen, nicht die Wahrheit liefern.

Das inhaltliche Spektrum der 15 Beiträge ist breit. Neben Wissenschaftlern kommen auch Journalisten zu Wort, Heribert Prantl von der „Süddeutschen Zeitung“ etwa, „Spiegel“-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer und Kai Gniffke, Erster Chefredakteur bei ARD-aktuell, der anschaulich vom Umgang mit – oft ausufernder – Kritik an der Berichterstattung erzählt.

Auch Claus Kleber, langjähriger Auslandskorrespondent in Washington und London und seit 2003 Moderator des „heute journal“ im ZDF, hat sich darüber oft Gedanken gemacht, warum die „Lügenpresse“-Rufe so laut geworden sind. Er hat eine eigene Streitschrift dazu verfasst, die mindestens so lesenswert ist wie das „Lügenpresse“-Buch bei Kiepenheuer & Witsch.

Kleber lässt sie mit einem persönlichen Erlebnis beginnen, das er als „Tiefpunkt“ bezeichnet. Er berichtet von einem Vortrag in einem Hörsaal der Uni Heidelberg. Dort fragte er in die Runde, wer es in Ordnung finde, wenn Medien wie das ZDF Rücksicht auf die Interessen der Bundesregierung nehmen, etwa bei der Berichterstattung über Putins Ukrainepolitik. Die große Mehrheit der Zuhörer hob die Hand, nur wenige sahen das anders. Kleber war erschüttert. Offenbar gingen fast alle im Hörsaal davon aus, dass öffentlich-rechtliche Medien nun einmal nicht unabhängig berichten könnten.

Und das sei sehr wohl so, betont der ZDF-Moderator. Immer wieder ist im Zusammenhang mit der Kritik an den Medien gefordert worden, sie müssten transparenter werden, mehr erklären, wie sie arbeiten. Und genau das macht auch Kleber in seiner Streitschrift. Er zeigt am Beispiel eines Tages, wie eine „heute journal“-Sendung entsteht. Nicht, indem der Regierungssprecher die Themen vorgibt, sondern, indem ein ganzes Team die Berichterstattung plant und dann im Zweifelsfall vieles doch wieder ganz anders kommt als nachmittags gedacht.

„Ich bin mehr denn je überzeugt, dass Fakten Schätze sind. Dass sie es wert sind, geborgen, geschützt und geteilt zu werden“, schreibt Kleber in seinem Schlusskapitel. Wo er recht hat, hat er recht. (dpa)