Was wäre, wenn jeder Teilzeit arbeiten würde?

<p>Eine Stellenanzeige für Teilzeitarbeit in einem Schaufenster</p>
Eine Stellenanzeige für Teilzeitarbeit in einem Schaufenster | Illustration: picture alliance/dpa

Teilzeitarbeit ist statistisch gesehen bereits eine Realität. Die Niederlande stehen in Europa mit 43 Prozent Teilzeitbeschäftigten an der Spitze. Belgien belegt mit 24 Prozent der Arbeitnehmer, die sich für diese Form der Arbeit entscheiden, den vierten Platz. In Bezug auf die Geschlechterverteilung schneidet Belgien wohlbemerkt schlechter ab als die Niederlande: Etwas weniger als die Hälfte der Frauen arbeitet Teilzeit, während es bei den Männern nur jeder Zehnte ist - eine direkte Folge alter Geschlechtsbilder, wonach Frauen in vielen Fällen immer noch für die Kinder und den Haushalt zuständig sind. Tatsächlich ist die Betreuung von Kindern und Angehörigen der häufigste Grund für Teilzeitarbeit.

Warum gibt es neben den jungen Eltern so wenig Menschen, die ihren Job in einem Unternehmen mit einer Leidenschaft verbinden, die auch eine Einkommensquelle sein kann? Unser heutiges Verständnis von Arbeit ist ein Relikt aus der industriellen Revolution, in der Maschinen Tag und Nacht laufen mussten und die Menschen nach einem Modell arbeiteten, das auf maximale Leistung ausgerichtet war. Wie wäre es mit einem Paradigmenwechsel, indem wir uns eine Gesellschaft vorstellen, in der alle Menschen Teilzeit arbeiten? Die Vorteile von Teilzeitarbeit für den Einzelnen, die Gesellschaft und im weiteren Sinne auch für die Wirtschaft sind zahlreich.

<p>Henriette de Robiano</p>
Henriette de Robiano | Foto: Freitagsgruppe

Jeder Mensch hat unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse. Jeder von uns befindet sich in einer anderen Phase seines Lebens. Eine bessere Work-Life-Balance würde den Druck auf die Beschäftigten und damit die Zahl der Langzeiterkrankten verringern und damit die Belastung unseres Gesundheitswesens senken. Außerdem könnten die Beschäftigten ihre Zeit flexibler einteilen. Einen Bürojob mit einem künstlerischen Hobby kombinieren? Mit einem Bein im Schuldienst und mit dem anderen in der Geschäftswelt stehen? Ein IT-Berater, der gleichzeitig Imker ist? Sich in Teilzeit um seine kranke Mutter kümmern, ohne sich gegenüber seinem Arbeitgeber schuldig zu fühlen? All das wäre möglich.

Vermeintlich macht es eine Teilzeitbeschäftigung schwieriger, sich innerhalb des Unternehmens weiterzuentwickeln. Ein Team zu leiten, wirkt gar unmöglich. Unterm Strich steht bei Teilzeit die Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber in Frage. Betrachten wir jedoch die potenziellen Vorteile für den Arbeitgeber. Mehr Teilzeitjobs bedeuten größere Flexibilität; wenn die Arbeitsbelastung hoch ist, werden die Unternehmen schneller neuen Stellen öffnen. Teilzeitarbeit führt auch zu einer besseren Arbeitsqualität und weniger Unfällen, die direkt mit Überstunden in Verbindung gebracht werden können. Mangelberufe in Kinderbetreuung, Krankenpflege oder Bildung wären dank eines weniger intensiven, abwechslungsreicheren Regimes attraktiver. Schließlich wurde berechnet, dass ein weltweiter Übergang zu kürzeren Arbeitswochen die CO2-Emissionen in diesem Jahrhundert um die Hälfte reduzieren könnte.

Natürlich gibt es auch Hindernisse: Nicht jeder will Teilzeit arbeiten. Steuerliche und rechtliche Fragen im Falle von Doppelarbeit müssten geklärt werden. Die Denkübung zeigt jedoch, dass wir die Idee wagen sollten, uns schneller in Richtung Teilzeitmodelle zu bewegen, damit jeder Einzelne ein besseres Gleichgewicht zwischen seinem Beitrag zur Wirtschaft, zur Gesellschaft, zu seinen Angehörigen und zu seinem eigenen Wohlbefinden finden kann. Teilzeit macht die Gesellschaft resilienter, flexibler, kreativer und vielseitiger, ohne Stigma oder Schuldgefühle.


Henriette de Robiano ist Ingenieurin und Architektin sowie Beraterin für Nachhaltigkeit und Klimaschutzmaßnahmen bei CLIMACT und Co-Vorsitzende der Freitagsgruppe. Die Freitagsgruppe ist eine Denkfabrik der König-Baudouin-Stiftung. Sie vereint junge Menschen aus Belgien mit dem Ziel, sich positiv in die gesellschaftspolitische Entwicklung des Landes einzubringen. 2024 feiert die Freitagsgruppe ihr 10-jähriges Jubiläum. Zahlreiche gesellschaftspolitische Empfehlungen haben die Mitglieder seither an die Politik gerichtet. Hinzu kamen zahlreiche Meinungsbeiträge in den belgischen Tageszeitungen und die Durchführungen eigener Podiumsdebatten. Das Grenzecho gehört neben „L’Echo“ und „Knack“ zu den Medienpartnern der Freitagsgruppe.

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